D a s   L i b e r a l e   T a g e b u c h

Sammlung Originaldokumente aus Das Liberale Tagebuch, (http://www.dr-trier.de)

 

 

Wolfgang Clement Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und Stellvertretender Parteivorsitzender der SPD

 

"Durch innovative Politik zu Gerechterer Teilhabe"

 

Rede anlässlich des "Forums Grundwerte: Gerechtigkeit"

der SPD in Berlin am 26. April 2000

 

Es gilt das gesprochene Wort -

 

 

 

I.

 

Es ist kein Zufall, dass wir unsere Programmdiskussion zu den Grundwerten sozialdemokratischer Politik mit dem Thema Gerechtigkeit eröffnen.

 

Das Streben nach Gerechtigkeit war die Wurzel für die Gründung unserer Partei vor anderthalb Jahrhunderten. Gerechtigkeit war, ist und bleibt für Sozialdemokraten Herzenssache.

 

Deshalb bewegt es uns auch mehr als alle anderen, wenn die tragenden Säulen des Sozialstaats heute so sehr von den Wellen der Veränderung umspült werden. Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung – diese Stichworte beschreiben Entwicklungen, die an den Nerv des gewachsenen Sozialstaats und unserer traditionellen Vorstellungen von Gerechtigkeit gehen.

 

Nirgends ist der Bedarf an Orientierung heute so groß wie auf die Frage, wie wir Gerechtigkeit auch im 21. Jahrhundert herstellen und erhalten wollen. Keine zweite Frage wird mit so weitreichenden, vielleicht auch schmerzhaften innerparteilichen Diskussionen verbunden sein.

 

Wir stehen hier programmatisch an einem Punkt, der vielleicht einmal tatsächlich mit "Godesberg" verglichen werden könnte.

 

Wir stellen uns dieser Diskussion heute offensiv und öffentlich. Denn ihre Bedeutung reicht weit über unsere Partei, ja über unser Land hinaus.

 

II.

 

In Amerika, so sagt man, passiere alles zehn Jahre früher als bei uns. Werfen wir deshalb einmal einen Blick zurück in die USA zu Beginn der 90er Jahre - in eine Zeit, als das "amerikanische Beschäftigungswunder" einsetzte.

 

Ich erinnere mich gut an die Diskussionen,

 

ob der amerikanische Arbeitsmarkt ein Vorbild sein könne für Deutschland und Europa, an die Diskussionen um "gute Jobs" und "Billig-Jobs", an die Frage, ob nicht eine Arbeit besser sei als keine Arbeit, selbst wenn es eine schlechter bezahlte Arbeit sei.

 

Vollbeschäftigung, das war die amerikanische Antwort, sei möglich - um den Preis einer wachsenden Einkommensspreizung und größerer sozialer Ungleichheiten.

 

Eine Antwort, die mit unseren traditionellen deutschen Vorstellungen von Gerechtigkeit kaum zusammenpasst. Der deutsche Sozialstaat schien damit vor der Wahl gestellt, entweder fortdauernde Arbeitslosigkeit zuzulassen oder mehr gesellschaftliche Ungleichheit.

 

Wie wir alle wissen, hat Deutschland unter der Regierung Kohl sich entschieden - für Beides.

 

Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, die soziale Ungleichheit ebenfalls:

 

Hohe und hartnäckige Arbeitslosigkeit, eine Lohnquote, die auf den Stand der 60er Jahre zurückgefallen war, während die obersten Einkommensgruppen ihren relativen Vorsprung in den 90er Jahren weiter ausbauen konnten, steigende Abgaben- und Steuerlasten gerade im Bereich der mittelständischen Leistungsträger und der Mittelschichten sowie ein nur noch für Experten durchschaubares und verständliches Steuersystem

 

Das waren die Konturen der Gerechtigkeitslücke, die die Bundesregierung Helmut Kohls hinterlassen hat und die im Kern von niemandem bestritten wird.

 

Im Gegenteil: Heute reden viele, verdächtig viele über soziale Gerechtigkeit. Manche, weil sie es bitter nötig haben. Aber Reden allein ersetzt keine Kompetenz.

 

Die CDU hat sich nach 16 Regierungsjahren in Bonn resp. Berlin als Partei der sozialen Gerechtigkeit gründlich dis- kreditiert. Daran werden auch neue Gesichter und die Hoffnung auf ein kurzes Gedächtnis der Wählerinnen und Wähler so rasch nichts ändern.

 

Und die PDS, diese selbsternannte Gralshüterin der sozialen Gerechtigkeit, hat auf ihrem Parteitag in Münster ja eindrucksvoll gezeigt, was hinter dem neuen Image steckt: Alte Machtkämpfe, alte Orthodoxien, die Schlachtordnungen der vergangenen Jahre.

 

Ob CDU oder PDS - sie reden über soziale Gerechtigkeit, weil sie es für opportun halten und für modern. Für uns Sozialdemokraten ist soziale Gerechtigkeit keine Frage von Modernität. Für uns ist Gerechtigkeit Tradition - und damit lebendige Verpflichtung für heute und morgen.

 

III.

 

Deshalb müssen gerade wir Sozialdemokraten mehr als andere beherzigen, was Anthony Giddens sinngemäß so formuliert hat:

 

In der neuen Weltwirtschaft können Traditionen nicht mehr auf traditionellen Wegen verteidigt werden.

 

Ich halte das für einen ganz entscheidenden Punkt: Es geht nicht darum, sich von Traditionen und Werten zu verabschieden. Es geht darum, sie für die Stürme der globalen Wissensgesellschaft "wetterfest" zu machen.

 

Was heißt das für das Ziel Gerechtigkeit?

 

Es heißt, dass Gerechtigkeit und Verteilungspolitische Ziele legitim bleiben. Wer sie aber auf traditionellen Wegen ansteuert, wird Schiffbruch erleiden.

 

Deshalb geht es um die Frage, wie wir die Prinzipien und die Praxis der gerechten, offenen Gesellschaft "kentersicher" machen.

 

Von der politischen Konkurrenz können wir da, wie gesagt, kaum etwas lernen, und auch das Arsenal der Beschwörungsformeln und Faustregeln von gestern hilft heute nicht mehr weiter. Das gilt vor allem für die plakative Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Gleichheit.

 

Gerechtigkeit, das bedeutete früher zuerst und vor allem mehr Gleichheit, und zwar ganz direkt mehr Verteilungs- und Ergebnisgleichheit.

 

Das hieß vor allem:

 

Abbau der drastischen Einkommen- und Vermögensungleichheiten, Abbau der Ungleichheit der Lebenschancen, Abbau der Geburts- und Klassenprivilegien beim Zugang zum Bildungssystem und insbesondere zur höheren Bildung.

 

Die jedem Verständnis von Gerechtigkeit Hohn sprechenden Ungleichheiten lagen klar erkennbar und benennbar auf der Hand.

 

Mit den Mitteln der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, des Arbeitsrechts, der Bildungsreform und des Schutzes vor den großen Lebensrisiken durch den Sozialstaat hat die Sozialdemokratie zu allen Zeiten versucht, diesen Ungleichheiten zu Leibe zu rücken.

 

Den historischen Erfolg dabei kann und wird niemand bezweifeln.

 

Die Erfolge von gestern taugen aber nicht, um sich auf ihnen auszuruhen.

 

In der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts müssen Wohlstand und Gerechtigkeit Tag für Tag aufs Neue erarbeitet werden.

 

Die stolzen Garantien, die wir unter dem Dach des Nationalstaats und der Nationalökonomie früher geben konnten, wiegen heute weniger auf der Waage der Weltwirtschaft.

 

Deshalb führt uns der weitere Vormarsch auf bewährten, aber manchmal auch aus-getretenen Pfaden des Erfolgs heute nicht weiter. Mitunter kann er sogar Erreichtes wieder in Frage stellen:

 

So hilft uns der alte Glaube, dass alles sozial Gerecht sei, was die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung verringert, in dieser Allgemeinheit nicht weiter:

 

Wer nur auf die eine Seite - die Sphäre der Verteilung - schaut, und die andere Seite – die Sphäre der Produktion - außer Acht lässt, der läuft in die Irre. Denn die Reihenfolge muss umgekehrt sein:

 

Die Erwirtschaftung des Wohlstands kommt vor seiner Verteilung - und zwar im Interesse von Leistung und von Gerechtigkeit.

 

Deshalb sind gerade wir Sozialdemokraten gut beraten, rechtzeitig unsere Gerechtigkeitsideale zu überdenken und sie an den Realitäten der neuen Weltwirtschaft abzumessen.

 

IV.

 

Was wir dabei brauchen, ist Realismus und zielorientierter, prinzipientreuer Pragmatismus.

 

Der gesunde Menschenverstand, die praktische Erfahrung, aber auch die realistische Theorie sind sich einig:

 

Verordnete Gleichheit - das lehrt die Geschichte - ist der Tod von Gerechtigkeit und Freiheit. Moderne soziale Marktwirtschaften hingegen können die Chancen auf Gleichheit erhöhen, ohne jedoch Gleichheit im Ergebnis zu sichern oder zu versprechen.

 

Diese Form von begrenzter Ungleichheit im Ergebnis kann sehr wohl auch ein Katalysator sein für individuelle als auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten. Sie kann damit auch dem Anspruch dienen, ein realistisches Mehr an Gerechtigkeit zu schaffen.

 

Ich glaube, dies ist der archimedische Punkt in der sozialdemokratischen Programmdebatte in Europa.

 

Dass hier zugleich auch der wundeste Punkt ist, liegt auf der Hand. Wenn wir also zu einem Durchbruch kommen wollen, müssen wir genau hier ansetzen. Das Ziel muss sein, die vertretbaren Ungleichheiten und die wünschenswerten Gleichheiten in ein produktives und ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Ein Verhältnis, in dem –

 

der Freiheit des einzelnen, dem gesellschaftlichen Fortschritt, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem solidarischen Zusammenhalt der Gesellschaft

 

gleichermaßen und optimal gedient ist.

 

Ich möchte das an zwei aktuellen Beispielen erläutern:

 

1.Beispiel: SteuerGerechtigkeit

 

Eine Steuerpolitik etwa, die im Namen der VerteilungsGerechtigkeit durch starke Progression die Einkommens- und Vermögensungleichheit zu verringern versucht, aber das wirtschaftliche Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze bremst, ist nicht nur leistungsfeindlich.

 

Sie kann auch nicht Gerecht sein, weil sie Einkommenschancen und potentiellen gesellschaftlichen Wohlstand verschenkt und Innovation und Dynamik insgesamt lähmt.

 

Wenn aber umgekehrt eine Steuerreform - so wie die Bundesregierung sie jetzt macht - die Einkommens- und Vermögensungleichheit zwar nicht aufhebt, ja zunächst allenfalls zu einem "etwas Mehr" an Gerechtigkeit führt (durch die Verbesserung des Familienleistungsausgleichs), wenn diese Steuerreform aber andererseits zu neuem Wachstum und zu mehr Arbeitsplätzen führt und so den gesellschaftliche Wohlstand insgesamt hebt, dann ist das leistungsfördernd und zweifellos ein Beitrag zur Schaffung Gerechter Lebensverhältnisse.

 

2.Beispiel: Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt

 

Es gibt Menschen, die können das hohe Tempo in der Wirtschaft nicht mithalten; sie bleiben dann, z.T. jahrelang, "außen vor".

 

Aber niemand ist ohne irgendein Talent, und wir sollten und dürfen es uns gesellschaftlich nicht leisten, Talente zu vergeuden. Denn Talente sind unser Reichtum von morgen. Wir müssen deshalb Wege finden, um die "Emanzipation der Talente" von standardisierten Regeln und Traditionen voranzubringen.

 

Einen Weg dazu bietet die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Sie kann Menschen, die lange Zeit außerhalb des Erwerbslebens stehen mussten, neue Chancen auf neue Arbeit bieten – eine Arbeit allerdings, die nicht dem entsprechen muss, was bei uns als "Normalarbeitsverhältnis" Tradition hat.

 

Bei uns wird dies allzu oft als Bedrohung von Standards und erkämpften Rechten und Ansprüchen wahrgenommen. Aus den Niederlanden habe ich aber gelernt, dass auch große Schritte der Flexibilisierung und Differenzierung insgesamt gesehen sehr wohl sozial Gerecht gestaltet werden können.

 

Ich denke, es ist ein Beitrag zu größerer Gerechtigkeit – LeistungsGerechtigkeit genauso wie BedürfnisGerechtigkeit - , wenn auf diesem Wege die Chancen für gesellschaftliche Beteiligung, für Innovation und wirtschaftliches Wachstum verbessert werden, und wenn auf diese Weise am Ende des Tages sehr viele Menschen bessere Lebens- und Handlungsmöglichkeiten gewinnen.

 

Beide Beispiele lehren meines Erachtens, dass Strukturen und Regeln, die den Zuwachs an gesellschaftlichem Wohlstand durch Partizipation, Innovation und Wachstum dauerhaft behindern, nicht wirklich Gerecht sein können.

 

Das Thema des 21. Jahrhunderts werden nicht mehr - wie im Sozialstaat des 20. Jahrhunderts – der Ausbau der erworbenen, manchmal "erkämpften" Institutionen und Ansprüche sein können, sondern die Frage, wie wir Chancengleichheit und maximale individuelle Entfaltungsmöglichkeiten dynamisch verankern und sicherstellen.

 

V.

 

Der amerikanische Philosoph John Rawls hat diese Gedanken konsequent und umfassender ausformuliert. Demnach muss sich eine Politik der Gerechtigkeit daran messen lassen, ob sie einen wirksamen Beitrag dazu leistet, dass sich der gesellschaftliche Wohlstand im Ergebnis in einem Maße erhöht, von dem alle einen Vorteil haben.

 

Mit gefallen diese Überlegungen ausgesprochen gut. Sie liefern die Grundlage für ein neues Verständnis von Gerechtigkeit, das den Blick auf die produktive, wertschöpfende Kraft von Gerechtigkeit auch in der Wissensgesellschaft lenkt.

 

Damit wird zugleich eine Grenze zu den individualistischen Ansätzen des Neoliberalismus gezogen, der die produktive Kraft des gesellschaftlichen Zusammenhalts systematisch unterbewertet.

 

Und nicht zuletzt passen diese Überlegungen sehr gut in unsere heutige Welt – die Welt der größeren gesellschaftlichen Differenzierung, des intensiven wirtschaftlichen Wettbewerbs und der raschen technologischen Innovation.

 

Eine Welt, in der nur die Gesellschaften ihren Wohlstand behaupten können, die wettbewerbsfähig und innovativ, leistungsorientiert, aber auch ernsthaft um den sozialen Zusammenhalt bemüht sind.

 

Dem stünde eine solche neue Politik der Gerechtigkeit nicht entgegen. Im Gegenteil, diese Überlegungen sind unmittelbar praxistauglich:

 

Sie fänden gerade in der Dynamik der realen Welt die Grundlage, um möglichst vielen Menschen die besten Chancen bieten zu können.

 

Zwei Voraussetzungen müssen für ein solches Verständnis von Gerechtigkeit erfüllt sein:

 

Allen Individuen müssen dieselben Grundrechte im größtmöglichen Maße garantiert sein. Das heißt in jedem Fall: bestmögliche Startchancen möglichst für alle und gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern und Positionen zu gewährleisten. Und zum zweiten heißt Gerechtigkeit in diesem Sinne in erster Linie Gleichheit der Chancen, aber nicht Gleichheit der Ergebnisse, die die Einzelnen erzielen, wenn sie ihre Chance nutzen.

 

Beide Entwicklungslinien, nämlich gleich gute Entfaltungschancen einerseits und Chancengleichheit andererseits, verbinden sich nahtlos mit einem anderen grundlegenden Programmsatz der Sozialdemokratie – mit der Freiheit.

 

Sie verbinden Freiheit und Gleichheit: Die gleiche Freiheit für alle bleibt so ein Grundprinzip von und für Gerechtigkeit.

 

Denn Gerechtigkeit muss auch in Zukunft immer auf Freiheit bezogen sein, so wie Freiheit immer auf Gerechtigkeit bezogen sein muss.

 

Wir alle wissen: Nur wer über ein Mindestmaß an materieller und sozialer Sicherheit verfügt, der kann seine Chance zur Freiheit auch nutzen und die ihm rechtlich zustehenden Freiheiten auch eigenständig ausfüllen.

 

Deshalb wird es auch in Zukunft gezielter öffentlicher Interventionen dort bedürfen, wo es mit der Gleichheit von Startchancen nicht getan ist.

 

Es wird auch in Zukunft niemand im Namen der Chancengleichheit allein- oder zurückgelassen. Es wird um jedes Talent gekämpft.

 

Es wird und muss auch in Zukunft ein gewisses Maß an politisch verantworteter Korrektur von Chancen und Ergebnissen hinzukommen. Wie groß dieses Maß ist, welche Richtung es nimmt, das wird im politischen und öffentlichen Diskurs zu entscheiden sein.

 

Das wichtigste Feld, auf dem sich diese Auseinandersetzungen künftig abspielen werden, ist nach meiner Auffassung die Bildungspolitik.

 

VI.

 

Das Bildungssystem wird künftig mehr denn je zum Schlüssel für soziale Gerechtigkeit.

 

Wie ernst wir Sozialdemokraten die Forderung nach Gerechtigkeit auch in Zukunft nehmen, wird daher vor allem in der Bildungspolitik sichtbar werden.

 

Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass die für soziale Gerechtigkeit elementare Frage der Beschäftigung und der individuellen Lebenschancen allein im Bildungssystem entschieden wird. Aber ich bin davon überzeugt, dass das Bildungssystem für die Zuteilung von Arbeits- und Lebenschancen noch mehr an Bedeutung gewinnen wird als es heute schon der Fall ist.

 

Eines der größten Defizite sozialer Gerechtigkeit liegt heute in der Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt und, damit verbunden, häufig auch aus dem gesellschaftlichen Leben. Deshalb gilt:

 

Mehr Beschäftigung und alles, was die Einbeziehung von Menschen in das gesellschaftliche Leben fördert, bedeutet mehr Gerechtigkeit.

 

Vor diesem Hintergrund steht eine Gerechte Bildungspolitik vor einer doppelten Aufgabe:

 

Erstens, das Wissen und die Kompetenzen zu vermitteln, die morgen über gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt entscheiden, und dabei gleichzeitig zweitens, soziale Ausgrenzungen angesichts steigender und neuer Qualifikationsanforderungen zu verhindern.

 

Um das zu erreichen, brauchen wir nicht nur die eine oder andere Bildungsreform, sondern ein neues Leitbild für unsere Bildungspolitik insgesamt.

 

Ein Leitbild, das gleichzeitig an den Bildungseinrichtungen und den Bildungsinhalten ansetzt.

 

Ein Leitbild, das zwischen verschiedenen Polen justiert werden muss, nämlich im Spannungsfeld von -

 

Chancengleichheit für alle und differenzierter Leistungsförderung, Individueller Entfaltung und sozialem Zusammenhalt, Sicherung von Standards und Aufbruch zu Innovation, Lokaler Einbindung und globaler Vernetzung, sowie neuartiger Verknüpfung öffentlicher und privater Verantwortung für die Finanzierung von Bildung.

 

Für eine Bildungsreform in diesem Spannungsfeld hat das neue Verständnis von Gerechtigkeit eine entscheidende Konsequenz:

 

Chancengleichheit und Leistungsorientierung sind keine Gegensätze, sie gehören direkt zusammen.

 

Wenn nämlich für Gerechtigkeit die gesellschaftlichen Entwicklungspotentiale entscheidend werden, dann widerspricht die Förderung von Spitzenbegabungen der Chancengleichheit in der Breite in keiner Weise.

 

Denn ohne das höchstmögliche Niveau von Bildung und Weiterbildung, Wissen und Kompetenz für alle können wir in der Wissensgesellschaft nicht erfolgreich sein.

 

Das ist eine wichtige Vorbedingung dafür, dass jeder dann seine eigenen Freiheiten und Erwerbschancen selber nutzen kann.

 

Genauso gilt aber: Ohne konsequente Förderung der Spitzenbegabungen kann die Gesellschaft insgesamt in der weltweiten Konkurrenz nicht bestehen, kann der Wohlstand, der allen zugute kommt, nicht gesichert und gewahrt werden.

 

Darum verlangt eine Gerechte Bildungspolitik für die Zukunft gleichzeitig und mit gleichem Nachdruck die Integration aller und ihre größtmögliche Förderung genauso wie die besondere Förderung von Spitzenleistungen und Spitzenbegabungen - und zwar ohne Hemmungen und Halbherzigkeiten.

 

VII.

 

Bei alledem dürfen wir uns auch keinen Illusionen hingeben. Auch ein perfektes Bildungssystem wird am Ende immer zu kurz greifen, wenn es nicht auf der Verantwortungsbereitschaft und der selbstverantwortlichen Initiative der Einzelnen unterstützend aufsetzen kann. Nur da, wo diese Verantwortung und Initiative vorhanden ist, wird der Staat wirksam helfen können – und dann ist es freilich sein Pflicht, das Notwendige wirkungsvoll zu tun.

 

Staatliches Handeln, ob im Bildungs- oder im Sozialsystem im ganzen, kann Voraussetzungen schaffen, Korrekturen und Hilfen anbieten.

 

Das Entscheidende, das selbstverantwortete Handeln der Individuen kann er niemals ersetzen.

 

Diese Ehrlichkeit ist auch ein wichtiges Element modernen Gerechtigkeitsdenkens. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit hat nicht nur einen Adressaten.

 

Eine neue Gerechtigkeitspolitik für die dynamische Gesellschaft der Zukunft muss deshalb zu neuen Formen der Zusammenarbeit von Staat und Gesellschaft finden. Wir brauchen eine Neubesinnung auf die Kernaufgaben des Staates und auf die Pflichten der Einzelnen in der Gesellschaft.

 

Für uns Sozialdemokraten ist und bleibt es eine Selbstverständlichkeit, dass der klassische Sozialstaat mit seinen schützenden, helfenden und sichernden Funktionen nicht durch ein noch so leistungsfähiges Bildungssystem ersetzt werden wird. Das wäre ein viel zu weit gegriffenes Verständnis von Chancengleichheit.

 

Der Schutz der Einzelnen vor den großen Lebensrisiken und vor dem Absinken in entwürdigende Lebensverhältnisse bleibt immer eine zentrale Verpflichtung unserer Politik der sozialen Gerechtigkeit. Aber der Sozialstaat der Zukunft wird sehr viel mehr darauf achten müssen, die Einzelnen in die Pflicht zu nehmen und, wenn nötig, auch zu drängen, ihrer eigenen Verantwortung nachzukommen. Das ist die Pflicht der Individuen gegenüber der Gesellschaft, das ist ihr Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit.

 

Wir nennen das "Fordern und Fördern", oder: Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten. Zu einem zeitgemäßen Verständnis von Gerechtigkeit gehört eben auch eine veränderte Verantwortungskultur.

 

VIII.

 

Eine neue, tragfähige und die Bürgerinnen und Bürger überzeugende Gerechtigkeitspolitik ist zugleich ein gutes Mittel, um gesellschaftlicher Apathie und Ressentiments entgegenzuwirken.

 

Beides, Apathie und Ressentiment kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten.

 

Apathie nicht, denn sie führt zu Entfremdung und Leistungsverweigerung. Ressentiments auch nicht, denn sie bilden die Schwungmasse für Extremismus und Populismus.

 

Das gefährdet nicht immer unmittelbar die Demokratie, aber es verdirbt das Klima in ihr, verkürzt ihre großartigen Möglichkeiten und lenkt ihre Energien fehl.

 

Deshalb bleiben wir Sozialdemokraten dabei:

 

So sehr eine entschlossene Politik der Modernisierung, des Wachstums, der Innovation und der Flexibilisierung, kurzum: eine nüchterne Realpolitik notwendig ist, so sehr werden wir auch in Zukunft dafür kämpfen, dass die Politik der sozialen Gerechtigkeit das Fundament dafür sichert.

 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.