D a s   L i b e r a l e   T a g e b u c h

Sammlung Originaldokumente aus „Das Liberale Tagebuch“, http://www.dr-trier.de

 

 

 

Liberalismus 2011ff

 

Christian Lindner im Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ veröffetnlicht am 01.10.11. Fragen von Stephan Hebel, Dr.. Christian Schlüter und Andreas Schwarzkopf.


Nummerierung der Fragen durch LT-Redaktion

Kommentiert unter http://www.das-liberale-tagebuch.de

Am 5. Oktober 2011


1. Frage: Herr Lindner, Sie haben einmal gesagt: „Das Regierungshandeln ist die Wandfarbe, das Grundsatzprogramm die Grundierung.“ So wie die Regierung bröckelt, müsste ja viel Programm zu erkennen sein. Helfen Sie uns bitte mit einigen wenigen Stichworten, von denen Sie sagen würden: Deshalb braucht Deutschland die FDP.

Lindner: Liberal zu sein heißt, politische Fragen mit einem bestimmten Stil zu beantworten. Eine Art politische Relativitätstheorie. Andere rechtfertigen mit dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit, Klimaschutz, Jugendschutz, polizeilicher Sicherheit ja nahezu jeden Eingriff in die private Entscheidungsfreiheit. Für Liberale heiligen die Zwecke dagegen nicht alle Mittel. Zum Zweiten braucht es eine politische Kraft, die den einzelnen Menschen zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit bestimmt und nicht den Staat oder die Tradition oder soziale Klassen oder die Umwelt oder irgendeine Interessengruppe. Beides zusammen, Wissen um Grenzen der Machbarkeit und Orientierung am Individuum, begründen eine Art liberale Methode.

2. Frage: Was von Ihrer Partei in letzter Zeit wahrzunehmen war, sah nicht besonders nach Relativierung aus. Erst Steuersenkung, dann „Kein Cent den Griechen“ – das klingt doch eher absolut.

Lindner: Wollten Sie mit mir nicht über Grundsätzliches sprechen - und dann die erste Frage wieder zu Steuern? Nun, die Bürgerinnen und Bürger brauchen finanzielle Feuerkraft, um ihre Lebensentscheidungen zu treffen. Deshalb muss man die Ansprüche des Fiskus mit den privaten Bedürfnissen ausbalancieren. Da kommt es auf das richtige Maß an. In den USA würde ich Obama zustimmen, dass bestimmte Steuerprivilegien beendet werden müssen. In Deutschland finde ich den rot-grünen Erhöhungsfuror dagegen gefährlich. Und Europa wird nur dann stabil sein, wenn Regierungen Verantwortung übernehmen und die Pumppolitik beenden. Von 'Kein Cent den Griechen' kann da überhaupt keine Rede sein. Um wieder auf die grundsätzliche Ebene zu kommen: Ein Grundsatzprogramm hat immer den Charakter der Selbstvergewisserung, aber auch der Selbstkorrektur.

3. Frage: Nennen Sie bitte einen zentralen Punkt, in dem Sie sich jetzt korrigieren.

Lindner: Es muss wieder stärker sichtbar sein, dass wir in der Tradition des deutschen Ordoliberalismus stehen. Manchmal sind wir mit einer Laissez-faire-Politik in Verbindung gebracht worden, die in den USA von den Neokonservativen vertreten wurde. Bei denen nimmt das Vertrauen auf den ungeregelten Markt mitunter religiöse Züge an. Zugleich wurde die wirtschaftliche Vernunft im billigen Zentralbankgeld ertränkt. Das aber ist nicht die Tradition eines Otto Graf Lambsdorff und der Sozialen Marktwirtschaft. Das wieder stärker herauszuarbeiten, auch in Reaktion auf die Krisen der Märkte und der Staaten, könnte ein Anknüpfen an bestehende Traditionen und zugleich ein Teil Selbstkorrektur sein.

4. Frage: Die „Verwechslungen“ haben Sie mit Ihrer staatsfeindlichen Rhetorik befeuert.

Lindner: Nur weil wir keine Staatsvergottung machen, sind wir doch keine Staatsfeinde. Liberale pflegen eine skeptische Staatsfreundschaft, weil der Staat doch zwei Gesichter hat. Wir sind für einen Staat, der oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der „Interessenten“ die Regeln des Spiels bestimmt. Das Recht des Stärken führt zur Anarchie, die Stärke des Rechts zu einer fairen Ordnung. Wir sind aber gegen einen Staat, der private Initiative verdrängt, der Menschen bevormundet und der sich ein Wissen über die Zukunft anmaßt, das es nicht gibt.

5. Frage: Der Staat soll also einerseits nicht zu mächtig sein und andererseits regulieren. Wo liegt die Grenze, wo soll er nun eingreifen und wo nicht?

Lindner: Das ist im luftleeren Raum schwer zu sagen. Ich versuche es am Beispiel der Finanzmärkte: Spezielle Geschäfte zu verbieten, ist mühsam. Was Politiker Spekulation schimpfen, kann für einen Mittelständler ein sinnvolles Geschäft sein, um seine Währungs- oder Rohstoffrisiken abzusichern. In Einzelfällen wie beim Verbot von Leerverkäufen kann man punktuell eingreifen. Besser ist es aber, strukturelle Grenzen einzuziehen. Zu fordern, dass der einzelne Investor, die einzelne Bank Eigenkapital vorhalten muss als Haftung für Fehlentscheidungen – das ist eine natürliche Risikobremse. Oder die Hedgefonds: Warum gibt es da noch keine Transparenz und Aufsicht? Warum sind da noch Hebel möglich, bei denen mit einem Euro Eigenkapital 50 Euro Kredit aufgenommen wird?

6. Frage: Sie haben den Einzelnen, also das freie Individuum, zum Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen erklärt. Wenn wir in Ihrer Beschlussvorlage zur Programmdebatte lesen...

Lindner: ...dass seine Freiheit soziale Voraussetzungen hat? Ja, der Einzelne ist der Ausgangspunkt, aber er kann mit seiner Freiheit nichts anfangen, wenn Ressourcen wie Gesundheit, intakte Umwelt, Infrastruktur und Bildung nicht zur Verfügung stehen. Das sahen die Steinzeit-Liberalen vielleicht anders, aber wir leben heute. Deshalb ist der Zugang zu diesen Gütern eine Frage der Gerechtigkeit, die wir in Deutschland noch nicht befriedigend gelöst haben. Und es kommt ein bestimmtes Lebensgefühl dazu. Ich spreche von verantworteter Freiheit. Man kann den eigenen Vorteil in einer liberalen Gesellschaft vernünftigerweise nur dann suchen, wenn man dabei bereit ist, auch die Folgen für Mitwelt, Umwelt und Nachwelt zu bedenken.

7. Frage: Das bleibt, solange Sie nur den Einzelnen ansprechen, ein Appell. Übersetzen Sie es doch bitte mal in Politik! Was kann und muss der Staat dazu beitragen, möglichst alle Bürger zur Freiheit zu ermächtigen?

Lindner: Bitte keinen Nanny State und keine moralisch erhobenen Zeigefinger. Ich glaube fest daran, dass vernünftige und emanzipierte Menschen auch zur Übernahme von Verantwortung begabt sind. Für kulturellen Horizont und Bildung ist daher ungleich mehr zu tun als bisher. Übrigens lebenslang, denn die Biografien verändern sich. Da werden auch die Arbeitgeber für die Pflege der Qualifikation ihrer Beschäftigten noch mehr Verantwortung übernehmen müssen. Vielleicht muss auch der Staat in geeigneter Weise helfen, dass Menschen in ihrem Erwerbsleben nicht in Sackgassen geraten.

8. Frage: Sie sprechen also vom Wohlfahrtsstaat.

Lindner: Eben nicht, wenn Sie darunter einen Umverteilungsapparat verstehen. Ich will einen Sozialstaat, der Aufstiegschancen eröffnet. Das schließt natürlich den Schutz vor großen Lebensrisiken wie etwa schwere Krankheiten oder Berufsunfähigkeit mit ein, die der Einzelne nicht allein tragen kann. Auch die Sicherung eines sozioökonomischen Existenzminimums ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Und so wie der allgemeine Wohlstand steigt, kann auch der Fußboden, auf dem alle im Notfall stehen, angehoben werden. Aber nicht schneller, weil das aus dem Sozial- den Schuldenstaat machen würde.

9. Frage: Und wie soll es nun aussehen, das Verhältnis der FDP zum Nutzen und Frommen sozialstaatlichen Handelns?

Lindner: Das Problem ist komplexer, als dass man es auf die Formel „Mehr oder weniger Staat ist gleich mehr oder weniger sozial“ bringen könnte. Was wir brauchen, ist vielleicht ein anderer Staat. Beispiel Arbeitsmarkt: Der Rückzug des Staates aus starren Regeln und die Möglichkeit flexibler Beschäftigungsformen hat in Deutschland dazu geführt, dass wir Weltmeister bei der Erwerbstätigkeit von Menschen mit geringer Qualifikation sind. Von Politikern festgelegte Mindestlöhne oder die Strangulierung flexibler Beschäftigung wie der Zeitarbeit und der Rest der Wunschliste politisch linker Parteien – den Menschen, die konkret einsteigen wollen, dem Familienvater, der keinen Schulabschluss hat, aber arbeiten will, würde all das nicht helfen.

10. Frage: Noch einmal bitte, positiv formuliert: Wo ermöglicht der Staat Freiheit?

Lindner: Der Staat ist unverzichtbar für die Ordnung der Märkte, damit sich die einzelnen Menschen nicht als machtlos gegenüber Privatgiganten empfinden. Zum Zweiten sprechen wir über einen Staat, der durch mehr Engagement für die individuellen Bildungschancen Menschen überhaupt erst die Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Lebenswegen eröffnet. Drittens plädiere ich für einen Sozialstaat, der die großen Lebensrisiken absichert, der aber darüber hinaus Menschen zur Teilhabe an Bildung und Arbeit anhält. Ein aktivierender Sozialstaat, der Menschen nicht anzieht wie ein Magnet und immer stärker festhält, je näher sie ihm kommen. Wir wollen die Polung umkehren: Je näher man an den Sozialstaat und seine Leistungen kommt, desto stärker spürt man seine Kraft, wieder in die Eigenverantwortung zurückzukehren. Ein letzter, vierter Punkt: Wir müssen den Staat wieder gesund machen. Er kann seinen Aufgaben nur nachkommen, wenn er nicht überdehnt und auf Schulden aufgebaut ist.

11. Frage: Bei den Ausgaben wird es schwierig, wenn Sie zum Beispiel für die Bildung mehr Geld aufwenden wollen. Was haben Sie also auf der Einnahmeseite vor?

Lindner: Politiker dürfen nicht schneller neue Staatsaufgaben erfinden, als die Bürgerinnen und Bürger Wohlstand erwirtschaften können. Wenn man diese goldene Regel beachtet, dann kann man langfristig sogar mit einer Entschuldung beginnen. Von Steuererhöhungen halte ich nichts. In der fragilen Wirtschaftslage wäre das eine Rosskur, die wir nicht brauchen.

12. Frage: Immerhin haben Sie ja eben auch die Steuersenkungs-Debatte beerdigt.

Lindner: Nein, das war kein Requiem. Aber Sie haben insofern Recht, dass zukünftige Entlastungen sich nur in dem Rahmen bewegen können, den die Schuldenbremse zulässt. Die Reduzierung der Neuverschuldung hat Priorität. Das haben auch Philipp Rösler und Rainer Brüderle immer betont.

13. Frage: Und woher kommt das Geld für die Bildungsoffensive?

Lindner: Wir haben steigende Steuereinnahmen. Beispielsweise die Grünen wollten dieses Geld für die alten Umverteilungsprogramme nutzen, zum Beispiel um die Regelsätze von Hartz IV nach Gutdünken zu erhöhen. Wir haben dagegen entschieden, die Bildungsausgaben bis 2013 um zwölf Milliarden Euro zu erhöhen. Also eine soziale Investition.

14. Frage: Ökonomen sprechen gern davon, dass die anderen mehr ausgeben müssen, wenn einer der wichtigsten Akteure – Staat, Unternehmen, Privathaushalte – spart. Wenn der Staat spart, wer soll dann bezahlen?

Lindner: Es gibt einen Unterschied zwischen Brüningscher Sparpolitik und dem Ende einer dauerhaften und strukturellen Überschuldung. Die Lehre aus Griechenland ist doch: Da hat ein Land über viele Jahre Schulden aufgenommen. Es hat das Geld nicht verwendet, um zu investieren, sondern für den Konsum. In den USA gab es Eigenheime ohne Eigenkapital, was die ganze Kreditkrise ausgelöst hat. An den Finanzmärkten wurden die Renditen durch überhöhte Hebelwirkungen geliehenen Kapitals erzielt, der Staat praktizierte Ausgabensteigerung über Schulden. Pump-Kapitalismus und Pump-Etatismus – beide Konzepte kommen jetzt an ein Ende.

15. Frage: In den USA und auch in Deutschland gibt es Reiche, die fordern, stärker besteuert zu werden.

Lindner: Mit Blick auf die Vereinigten Staaten, wo die Bush-Regierung steuerliche Ausnahmen für bestimmte Bevölkerungsgruppen machte, oder mit Blick auf Griechenland, wo der Fiskus nicht vernünftig arbeitete, ist eine solche Diskussion angebracht. In Deutschland sehe ich keinen Anlass. Wenn bestimmte Millionäre glauben, dass ihre Unternehmen zu viel Gewinn machen, dann empfehle ich, Leute von der Straße zu holen und einzustellen. Man muss nicht den Umweg über den Staat gehen, um soziale Verantwortung zu übernehmen.

16. Frage: Wenn es das Wachstum alleine nicht bringt: Wo würden Sie etwas wegsparen?

Lindner: Noch einmal: Eine prosperierende Volkswirtschaft mit sinkender Arbeitslosigkeit schafft Einnahmen und reduziert die Sozialausgaben. Dafür gibt es einen Begriff: Soziale Marktwirtschaft. Wenn das Wachstum des Staatshaushalts auf mittlere Sicht unter dem Wirtschaftswachstum bleibt, was es so gut wie nie getan hat, dann würden wir in einer Generation ganz andere Möglichkeiten haben. Die Aufwendungen, die wir heute für Zinsen brauchen, könnten dann sinnvoller genutzt werden.

17. Frage: Bereiten Sie sich mit Ihrer Programmarbeit auch darauf vor, vielleicht 2017 als möglicher Koalitionspartner der SPD in den Bundestag zurückzukehren?

Lindner: Nein. Mit dem Grundsatzprogramm beschreiben wir unsere Prinzipien und Schlüsselprojekte. Das machen wir nicht in Abhängigkeit von anderen Parteien. Sozialdemokraten und Grüne entfernen sich gerade von der erfolgreichen Agenda-Politik, die wir unterstützt haben. Sie wird von beiden Parteien systematisch rückabgewickelt. Denken Sie an die Rente mit 67. Denken Sie daran, dass beide die Hartz-Gesetze, vor allem das Prinzip „Fördern und Fordern“, abwickeln wollen. Ich sehe, dass sich Rot und Grün von der neuen Mitte wieder Richtung alte Linke entwickeln. Da rennen wir nicht hinterher.