D a s   L i b e r a l e   T a g e b u c h

Sammlung Originaldokumente aus „Das Liberale Tagebuch“, http://www.dr-trier.de

 

 

 

 

Chancen für morgen.

 

Christian Lindner in „Liberal“, November 2010, S.4 

 

Die Geschichte liberaler Grundsatzprogrammatik

 

Die Geschichte liberaler Grundsatzproklamationen ist auch die Geschichte von Einigkeit und Recht und Freiheit in Deutschland. Sie reicht weit bis ins 19. Jahrhundert zurück. Rund 30.000 Menschen zogen Ende Mai 1832 von Neustadt an der Weinstraße in der Pfalz zur Ruine des Hambacher Schlosses, um dort für Freiheit und nationale Einheit zu demonstrieren. Im Herbst 1847 fanden die gemäßigten Liberalen in Heppenheim an der Bergstraße zusammen, um über eine gemeinsame liberale Programmatik zu beraten. Im Zentrum standen damals die Forderungen nach Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit sowie einem deutschen Bundesstaat mit starker parlamentarischer Vertretung. Darüber hinaus wurde die Verantwortung der gesamten Gesellschaft angemahnt – der Pauperismus hatte im Zuge der Industrialisierung auch Deutschland erreicht –, die von Armut und Not betroffenen Bürger zu unterstützen.

 

Es war also kein Zufall, dass gut 100 Jahre später – im Dezember 1948 – der Gründungsparteitag der Freien Demokratischen Partei ausgerechnet im hessischen Heppenheim stattfand. Mit der sogenannten „Heppenheimer Proklamation“ wurde unter Federführung von Theodor Heuss der ideelle Grundstein für den bundesrepublikanischen Liberalismus gelegt, in dessen Kern die Persönlichkeitsrechte und die Achtung der Menschenwürde unumstößlich verankert sind. Die „Freiburger Thesen für eine liberale Gesellschaftspolitik“ von 1971 entstanden schließlich unter dem doppelten Eindruck des Systemkonflikts zwischen Ost und West und dem Aufbruchsgeist der Studentenbewegung. Mit ihrem Projekt eines „sozialen Liberalismus“ brachte die FDP wichtige gesellschaftspolitische Fragen auf den Punkt, regte zu Diskussionen an und leistete einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der sozialliberalen Koalition unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt.

 

Unter Federführung ihres damaligen Generalsekretärs Guido Westerwelle verabschiedeten die Liberalen dann im Jahr 1997 nach zweijähriger Beratungszeit ihr bislang letztes Grundsatzprogramm – die „Wiesbadener Grundsätze für eine liberale Bürgergesellschaft „. Wie die „Freiburger Thesen“ lieferten sie eine umfassende Interpretation der Zeitgeschichte und skizzierten Ideen zukünftiger Politik, die weit über die FDP hinaus Resonanz fanden. Sowohl die von den mittelosteuropäischen Freiheitsbewegungen 1989 inspirierte Vision der Bürgergesellschaft als auch das „Prinzip Verantwortung für die nächsten Generationen“ fand dort Niederschlag. Sie wurden zu Leitmotiven des gesellschaftlichen Diskurses. Die damals pointiert vorgetragene Diagnose der „Gefälligkeitspolitik“ eines überforderten Wohlfahrtstaates hat bis heute nichts an Gültigkeit verloren.

 

Diese Traditionen verpflichten uns. Sie machen uns zu Bannerträgern der klassischen Werte und Hoffnungen der Aufklärung. Sie zeigen, dass die innere Freiheit des Einzelnen und die äußere Freiheit der Vielen immer wieder gefährdet und nie ganz gewonnen sind. Liberale Grundideen müssen immer wieder angepasst und neu bestimmt werden. In einer neuen Zeit schreiben wir die Traditionslinien des politischen Liberalismus in die Zukunft fort.

 

Warum wir ein neues FDP-Grundsatzprogramm brauchen

 

Die „Wiesbadener Grundsätze“ stammen aus dem Jahr 1997. Damals war Helmut Kohl noch Bundeskanzler, Norbert Blüm Arbeitsminister und die Renten galten als sicher. Oskar Lafontaine führte als Vorsitzender eine SPD an, die kurz davor stand, für elf Jahre in die Regierung einzutreten. Lady Diana engagierte sich gegen Landminen, und ein unbekannter Wüstenkrieger namens Osama bin Laden kehrte nach Afghanistan zurück. Ein Jahr nach den Wiesbadener Beschlüssen, im September 1998, ging Google zum ersten Mal online. Und wiederum ein Jahr später kam das erste serienmäßig hergestellte Foto-Handy auf den Markt. Kurz nach der Jahrtausendwende, am 11. September 2001, wurde die Welt durch die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon erschüttert. Mit der Verteidigung der Freiheit begründete George W. Bush militärische Einsätze im Irak und in Afghanistan, und auch deutsche Soldaten stehen jetzt am Hindukusch. Im Namen der Verteidigung der Freiheit wurden auch Sicherheitsmaßnahmen verschärft – mit Einschränkungen und einem Misstrauen gegenüber gläubigen Muslimen, die Teil unseres Alltags geworden sind. 2002, fünf Jahre nach der Verabschiedung der „Wiesbadener Grundsätze „, hat schließlich der Euro die D-Mark als Zahlungsmittel abgelöst. Deutschland wurde endgültig zum europäischen Kernland.

 

Die Welt, wie wir sie kennen, hat sich seit 1997 tiefgreifend verändert. Und Deutschland wird sich in den kommenden zwanzig Jahren weiter verändern: Die fortschreitende Globalisierung öffnet der Exportnation neue Märkte, macht uns aber zugleich abhängiger von Entwicklungen auf der Weltbühne. Innovation bringt neuen Wohlstand, fordert aber auch mehr vom Einzelnen. Zuwanderung, Alterung und die vielfältigen Lebensstile machen unser Land bunter, verlangen aber auch einen neuen gesellschaftlichen Konsens und reformierte Sozialsysteme. Digitale Medien vereinfachen unseren Alltag, bedrohen aber zugleich die Privatheit. Die Schonung natürlicher Lebensgrundlagen bringt einen Schub neuer Technologien, verändert aber auch alle Lebensbereiche. Die FDP will sich den veränderten Herausforderungen stellen und Politik und Gesellschaft langfristig freiheitlich gestalten. Das 21. Jahrhundert muss ein liberales Jahrhundert werden. Dafür wollen wir die Weichen stellen.

 

(Ausführungen zum Ablauf der Programmdebatte … )

 

Mit dieser breit angelegten Debatte reagieren wir auch auf die gegenwärtig spürbare Distanz zwischen den Bürgern und der Politik. Wir als liberale Partei öffnen uns für das Gespräch mit allen, denen Freiheit und Würde des Einzelnen, freiheitliche Ordnung und Chancen für morgen wichtig sind. Wir wollen die Weisheit der Vielen nutzen für die Gestaltung unserer politischen Zukunft.

 

Ordnung der Freiheit: Chancen für morgen

 

Im Kern dessen, was wir mit diesem neuen Grundsatzprogramm erreichen wollen, steht die Begründung einer neuen Ordnung für unser Zusammenleben. Der Liberalismus ist der Freiheit und Würde jedes Einzelnen verpflichtet. Diese Freiheit braucht Ordnung: Deshalb diskutieren wir für eine neue Zeit über ein faires Miteinander. Wir arbeiten für eine Gesellschaft, die allen neue Chancen eröffnet. Aber Chancen sind keine Garantien. Wir ermutigen und befähigen den Einzelnen, für sich und andere wieder mehr Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen einen Staat, der Fairness durch klare Regeln schafft, aber zugleich Freiheit und Individualität der Menschen achtet.

 

Im letzten Essay vor seinem Tod hat Ralf Dahrendorf vor einem „Pump-Kapitalismus“ gewarnt. Er beklagte, dass die Wertschöpfung aus Arbeit, Eigenkapital und Innovation nicht mehr ausreicht, um die Renditeerwartungen zu erfüllen. Er beobachtete und kritisierte, dass immer schneller Geld mit geborgtem Geld gemacht werden sollte. Diese Wirtschaftsform ist implodiert, weil der Staat nicht die Regeln gesetzt hat, die erforderlich waren. Aber auch das Pendant des Pump-Kapitalismus ist gescheitert, nämlich der Pump-Etatismus. Weil die Produktivkräfte der Volkswirtschaft die immer steigenden Erwartungen an den Staat und an die Staatsaufgaben erfüllen konnten, hatten Staaten sich verschuldet. Die Griechen halten uns in Deutschland den Spiegel vor.

 

Wie begründen wir nach dem Scheitern von Pump-Kapitalismus und Pump-Etatismus eine neue Ordnung der Freiheit? Es geht darum, den Staat als Ordnungsmacht oberhalb der Wirtschaft zu stärken – nicht als Mitspieler im Getümmel. Es geht darum, den Staat zu stärken als Garant von Bildungschancen, ihn aber nicht zum Vormund und Zensor unseres Privatlebens zu machen. Es geht darum, die Gesellschaft zu ermutigen und zu ermächtigen, Verantwortung zu übernehmen. Es geht darum, republikanisches Miteinander und demokratische Regierungsfähigkeit zu üben. Wir Liberale wissen eins: Wir brauchen einen Staat, der aus den Überforderungssituationen heraus wieder zum starken Partner der Gesellschaft und der einzelnen Menschen in Kernaufgaben wird. Liberale erwarten vom Staat nicht gutes Geld, sondern vor allen Dingen gutes Recht.

 

Das ist für uns Verpflichtung: Wir wollen nachdenken über die Chancen für morgen. Der demografische Wandel ist ein Risiko, weil er die Fliehkräfte in der Gesellschaft vergrößert, aber auch eine Chance, eine neue deutsche Identität der bunten Republik zu etablieren. Der globale Wettbewerb ist ein Risiko, aber eben auch eine Chance, weil sich neue Märkte für Deutschland öffnen. Die Digitalisierung ist ein Risiko, für geistiges Eigentum und Privatheit, aber doch auch eine Chance für vielfältige Erleichterungen im Alltag. Der Klimawandel ist ein Risiko, weil ein klimapolitischer Dirigismus die Freiheit durch Bürokratisierung gefährden könnte, aber auch die Chance, Nachhaltigkeit als Prinzip einer neuen Weltortung zu etablieren. Mehr Demokratie ist ein Risiko, wenn sie den Rechtsstaat blockiert, aber eine Chance, wenn sie die Weisheit der Vielen nutzt. Und darum geht es uns: um die Chancen für morgen. Mögen die anderen nur auf die Risiken schauen. Mögen die anderen nur die Risikogesellschaft sehen. Eine politische Kraft gibt es in Deutschland, die sich für Chancen für morgen einsetzt, die die Chancengesellschaft will – und das ist die FDP.