“Wir leben nicht mehr in einem Obrigkeitsstaat“
FDP-Generalsekretär Christian Lindner im Interview mit SPIEGEL vom 10.10.2011.
Fragen von Dirk Kurbjuweit und Merlind Theile.
Frage: Herr Lindner, die
Piratenpartei tritt für Bürgerrechte ein und spricht freiheitsliebende,
moderne Menschen an. Das gilt als Revier der FDP. Haben Sie Angst, dass die
Piraten Ihre Partei überflüssig machen könnten?
Lindner: Ich fürchte den Wettbewerb
nicht. Spannend sind ja nicht die Piraten selbst, sondern ihre Wählerinnen
und Wähler. Eine neue Debattenlinie in der Gesellschaft wird mächtig. Es gab
immer Konfliktlinien wie Ökonomie und Ökologie, Kapital und Arbeit oder Stadt
und Land. Nun kommt eine Differenz zwischen Offline- und Online-Politik dazu.
Digitale Medien sind für viele Menschen nicht nur Mittel der Kommunikation,
sondern auch persönlicher Lebensraum. Die neue Frage an Parteien ist, ob sie
Sensibilität für die Bedürfnisse dieser Menschen haben oder nicht.
Frage: Die Piratenpartei scheint die
digitale Welt besser zu verstehen als die FDP. In Berlin hat sie neun Prozent
geholt, Ihre Partei nicht einmal zwei. Hat die FDP die neue Welt verschlafen?
Lindner: Das ist eine Herausforderung
an alle. Die FDP ist eine Partei mit großer Tradition, die immer wieder
schwierige Phasen hatte. Die Piraten sind ein Phänomen, das mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit flüchtig ist, wenn man es besser kennt. Mir geht
es um die darunter liegende Tiefenströmung. Es wächst ein Wunsch nach
Privatheit und Freiheit im Internet, den wir teilen. Viele wollen mehr
Transparenz im politischen System und finden den anderen Stil, den die
Piraten verkörpern, charmant.
Frage: Was ist das für ein Stil?
Lindner: Herkömmliche Parteien sind
organisiert wie ein Rudel. Die Piraten wirken eher wie ein Schwarm.
Frage: Wie funktioniert denn ein
Parteienschwarm?
Lindner: Es gibt wenige Festlegungen
und kaum bekannte Köpfe. Die Probleme werden online diskutiert. Dabei werden
die Mitglieder, die am Laptop sitzen, in Echtzeit einbezogen. Das erscheint
auf den ersten Blick erfrischend, kann aber irgendwann nervtötend sein.
Frage: Wollen Sie die Rudel-Partei
FDP nun auch zum Schwarm machen?
Lindner: In der Organisation von
Parteien steckt die Weisheit von Jahrzehnten. Wenn jede Entscheidung einer
zufällig zusammengesetzten Internetgemeinde unterworfen wird, kann man ein
Land nicht mit Stetigkeit führen. Man kann manches von den Piraten lernen,
aber kopieren sollte man sie besser nicht.
Frage: Was haben Sie für ein Bild von
den Wählern der Piratenpartei?
Lindner: Das Bild ist noch
uneinheitlich, weil die Partei eine Projektionsfläche ist. Mich interessieren
diejenigen, die technikaffin sind und Neuem gegenüber aufgeschlossen. Da sind
Menschen, die sich etwas zutrauen, die nicht an letzte Wahrheiten oder die
grünen Machbarkeitsphantasien glauben, sondern pragmatische Problemlösungen
wollen. Das sind Leute, die ihre persönliche Freiheit leben wollen, zum
Beispiel dadurch, dass das Internet nicht zum Spielfeld konservativer Law-and-Order-Politik
oder das Leben vom moralisch erhobenen Zeigefinger der Grünen gelenkt wird.
Um diese Wählerinnen und Wähler kämpfen wir. Da haben wir einen
Kompetenzvorsprung.
Frage: Die FDP hat doch gar keinen
Kompetenzvorsprung. Sie hat bislang Politik vor allem in Hinterzimmern
gemacht, abgeschottet von der Basis.
Lindner: In der Netzpolitik hat
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger einen guten Namen, weil die FDP eine
Internet-Zensur verhindert hat und die Speicherung von Kommunikationsdaten
der Bürger auf Vorrat kritisch sieht. Beim geistigen Eigentum sind die
Piraten auf einem granatenfalschen Weg. Wenn man das Urheberrecht aufhebt,
dann wird es bald keine hochwertigen Inhalte mehr geben. Irgendwie muss ja
auch der SPIEGEL leben. Was die Parteiorganisation angeht, bin ich, wie
gesagt, nur für vorsichtige Reformen.
Frage: Tritt die FDP nun auch für
mehr direkte Demokratie ein?
Lindner: Wir leben nicht mehr in
einem Obrigkeitsstaat, in dem die Bürger Mündel der Regierung sind, sondern
wir haben es mit Menschen zu tun, die teils über besseres Wissen als mancher
Politiker verfügen. Ich glaube, dass wir uns durchaus mehr Bürgerdemokratie
zutrauen sollten, im Sinne der Selbstregierung von Bürgern durch Bürger. Eine
Volksgesetzgebung auf Bundesebene passt nicht in das Grundgesetz, auch wegen
des Föderalismus. Die Möglichkeit von Volksbefragungen halte ich aber für
diskussionswürdig.
Frage: Kanzleramtsminister Ronald
Pofalla von der CDU hat gesagt, er könne die „Fresse“ des Parteikollegen
Wolfgang Bosbach nicht mehr sehen, weil der gegen den provisorischen
Rettungsschirm EFSF gestimmt hat. Wie ist es bei Ihnen und Ihrem Parteifreund
Frank Schäffler? Er hat durchgesetzt, dass die FDP-Mitglieder über den
dauerhaften Rettungsschirm ESM abstimmen können.
Lindner: Wir haben da einen
kollegialeren Umgang.
Frage: Aber er könnte die FDP aus der
Bundesregierung katapultieren, wenn er sich durchsetzt. Denn die Kanzlerin
will den ESM.
Lindner: Wir auch. Ich bin mir
sicher, dass viele Unterstützer des Mitgliederentscheids im Ergebnis gar
keinen anderen Kurs wollen, sondern eine offene Diskussion. Wenn die
Bürgerinnen und Bürger nicht selbst über Europa entscheiden können, müssen
die Parteien ihre Mitglieder beteiligen. Warum machen das die anderen
Parteien nicht auch? Europa-Gegner gibt es in der FDP jedenfalls keine.
Deshalb sehe ich darin eine Chance für die FDP, über die Europapolitik auch
öffentlich sichtbar zu sprechen und unsere Position zu verdeutlichen.
Frage: Was ist Ihre Position?
Lindner: Wir wollen eine Stabilitätsunion
mit einer Wirtschaftsverfassung. Also mehr Europa, aber im Sinne der
ursprünglichen Idee des Stabilitätspaktes mit klaren Regeln, die nicht wie
damals von Rot-Grün gebeugt werden können, sondern die automatischer greifen.
Wir sind nicht der Auffassung der CSU, die weniger Europa will. Wir sind aber
auch nicht der Meinung, dass wir im Zuge einer gesamtschuldnerischen Haftung
in Europa eine Art Zinssozialismus einführen sollten, wie er von SPD, Grünen
und Linkspartei gefordert wird.
Frage: FDP-Chef Philipp Rösler hat
von einer „geordneten Insolvenz“ für Griechenland geredet. Wollen Sie die
Griechen nicht mehr dabeihaben?
Lindner: Im Gegenteil könnte eine
Umschuldung zum richtigen Zeitpunkt den Griechen helfen. Es ist im
fiskalischen und geostrategischen Interesse Deutschlands, dass die Griechen
in der Eurozone bleiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass es an der
Südostflanke von NATO und EU einen instabilen Staat geben könnte, den
chinesische Fonds finanzieren. Wenn Griechenland aus der Eurozone fällt,
könnte es einen Dominoeffekt geben.
Frage: Es ist absehbar, dass der
Rettungsschirm, der jetzt im Bundestag verabschiedet wurde, nicht reicht.
Wird die FDP einer Ausweitung zustimmen?
Lindner: Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble hat ja vor der FDP-Bundestagsfraktion klargestellt, dass es
keine Ausdehnung des Garantierahmens von 211 Milliarden geben wird.
Frage: In den zwei Jahren in denen
Sie mitregieren, ist die FDP vom besten Wahlergebnis aller Zeiten auf ein
historisches Umfragetief abgestürzt. Was haben Sie falsch gemacht?
Lindner: Es gibt enttäuschte
Erwartungen, und wir haben vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt erkannt, dass
die politischen Magnetfelder sich verändert haben. Da muss man neu auf den
Kompass schauen.
Frage: Was haben Sie nicht erkannt?
Lindner: Viele Menschen sagen mir,
dass sie die Steuern immer noch als zu hoch und zu kompliziert empfinden,
aber Angst um den Euro und vor der Schuldenlast ihrer Kinder haben. Das sind
die Prioritäten. Wir müssen uns schneller aus der Abhängigkeit von den
Finanzmärkten befreien. Deshalb hat die Entschuldung der öffentlichen
Haushalte Priorität . Die Entlastung über die wir in
diesem Herbst sprechen, wird sich genau in dem Rahmen bewegen, den die
Schuldenbremse erlaubt.
Frage: Sehen sie da schon eine Zahl?
Lindner: Nein, ich sehe noch keine
Zahl. Philipp Rösler und Rainer Brüderle haben bereits sehr früh klargemacht,
dass es eher keine breitflächige Entlastung geben kann. Wir werden uns darauf
konzentrieren, bei kleinen und mittleren Einkommen die kalte Progression oder
die Wirkung des Solidaritätszuschlags zu reduzieren. Das ist eine Frage der
Gerechtigkeit.
Frage: Wenn Wahlen verloren gehen,
könnte das auch am Generalsekretär einer Partei liegen. Fehlt Ihnen die
Erfahrung für diesen Job?
Lindner: Als Jüngerer kann man kraft
Natur der Sache nicht über so viel Erfahrungswissen verfügen wie ein
Mittfünfziger oder über 60jähriger. Vielleicht haben aber jüngere Politiker
eine andere Sensibilität für neue Themen. Es geht also um die beste
Teamaufstellung. Und mit Philipp Rösler an der Spitze von
Regierungsmannschaft und Partei und Rainer Brüderle an der Spitze der
Fraktion haben wir eine gute Kombination.
Frage: Wofür wird die FDP in der
Regierung noch gebraucht?
Lindner: Wir sind die Partei der
Sozialen Marktwirtschaft. In Deutschland wissen wir aus Erfahrung, dass
transparente Märkte, auf denen Wettbewerb herrscht, für die Menschen
Wohlstand und Aufstiegschancen schaffen. Diese Soziale Marktwirtschaft muss
aber verteidigt werden.
Frage: Gegen wen?
Lindner: Sie muss verteidigt werden,
weil die Tugenden des ehrlichen Kaufmanns nicht überall gelebt werden. Wir
haben ein Jahrzehnt entfesselter Finanzmarktökonomie hinter uns, in dem die
Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft teilweise gebrochen wurden. Das
heißt, ein Thema für uns muss die Neudurchsetzung der Sozialen
Marktwirtschaft sein. Nur so schützen wir sie auch gegen die altlinke Kritik,
die im Windschatten der Krise fröhliche Urstände feiert.
Frage: Wie wollen Sie die soziale Marktwirtschaft
verteidigen?
Lindner: Eine der größten
Herausforderungen ist die Regulierung der internationalen Finanzmärkte.
Denkbar wäre ein Börsenzwang für Geschäfte am Kapitalmarkt. Das erhöht
Liquidität und Transparenz der Märkte. Wir müssen auch die Hedge Fonds
regulieren. Die agieren außerhalb der Bankenaufsicht und sind immer noch in
der Lage, mit einem Euro Eigenkapital 50 Euro Fremdkapital aufzubauen. Risiko
und Haftung müssen aber zusammenbleiben. Es gibt zudem einzelne Produkte, von
denen mir sogar Banker sagen, dass sie Sinn und Wirkung nicht vollständig
verstehen. Wenn man uns also nicht bald die Notwendigkeit von Wetten auf den
Kreditausfall erklärt - verbieten.
Frage: Geht mit diesen Entwürfen auch
die Phase eines staatsskeptischen, wirtschaftsverherrlichenden Liberalismus
zu Ende? Ist dieser Liberalismus gescheitert?
Lindner: Gescheitert sind der
Schuldenstaat und die Politik des billigen Zentralbankgelds. Wir setzen in
der Wirtschaftspolitik weiter auf den Liberalismus eines Otto Graf Lambsdorff.
Wir brauchen einen Rechtsstaat, der stark ist, der oberhalb des Getümmels
steht und die Regeln des Spiels bestimmt. Wir brauchen einen Staat, der
seinen Aufgaben nachkommt, der auch Autorität hat und geschätzt wird wegen
der Effizienz seiner Ergebnisse.
Frage: Was unterscheidet sie dann
noch von der CDU?
Lindner: Bei der CDU sehe ich einen
Staat, der Daten unbescholtener Bürger speichern würde. Bei der CDU sehe ich
einen Staat, der OPEL ohne Weiteres
Milliardenbeträge überwiesen hätte. Bei der CDU sehe ich einen Staat, der mit
der Frauenquote tief in die private Vertragsfreiheit eingreifen würde. Das
ist nicht der Staat der FDP.
Frage: Diesen Staat wollten in Berlin
nur zwei Prozent der Wähler. Haben Sie sich schon bei dem Gedanken ertappt,
es ist Bundestagswahl und die FDP landet bei zwei Prozent?
Lindner: Noch nie. Ich bin mir
sicher, dass die FDP bei der nächsten Bundestagswahl ein ordentliches
Ergebnis bekommen wird, weil wir als politischer Faktor gebraucht werden.
Stellen Sie sich mal vor, es gäbe die FDP nicht!
Frage: Eine Vorstellung, die man
aushalten kann.
Lindner: Wer behält dann die die
Grenzen der Wirksamkeit des Staates im Blick? Wo gibt es das Argument, auf
die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu achten? Welche Partei stellt dann noch
das Individuum in das Zentrum ihrer Politik und nicht Klasseninteressen oder
die Umwelt oder den Staat oder die Tradition? Niemand! Selbst wer unsere
Überzeugungen nicht teilt, müsste eine Verarmung der politischen Landschaft
einräumen. Deshalb braucht Deutschland eine liberale Partei. Kein Zweifel.
Frage: Herr Lindner, vielen Dank für
das Gespräch.
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