D a s   L i b e r a l e   T a g e b u c h

Sammlung Originaldokumente aus „Das Liberale Tagebuch“, http://www.dr-trier.de

 

 

 

 

Nur Bildung bringt den Segen der Freiheit

Christian Lindner

veröffentlicht in DIE WELT vom 15.07.11

Mit ihrem neuen Sozialwort zeigen die katholischen Bischöfe, dass die Idee der Freiheit eine neue Debatte verdient.

Sicherheit und Gleichheit werden in Deutschland wichtiger genommen als die Freiheit. Die katholischen Bischöfe haben zu diesem egalitären Zeitgeist nun einen bemerkenswerten Kontrapunkt gesetzt. Er ist eine Einladung zu einer vertieften Wertedebatte. Mit ihrem in der vergangenen Woche vorgestellten Sozialwort „Chancengerechte Gesellschaft: Leitbild für eine freiheitliche Ordnung“ setzen sie sich pointiert mit der Idee der Freiheit auseinander.

In der gesellschaftspolitischen Debatte auch in beiden großen Kirchen dominierte bislang die Vorstellung, das Glück des Menschen verbinde sich in erster Linie mit dem Streben nach Sicherheit und Gleichheit – und nicht so sehr mit dem Segen der Freiheit. Dabei hatte bereits Papst Johannes Paul II. in der freiheitlichen Idee den zentralen Konstruktionspunkt kirchlicher Sozialverkündigung erblickt – daran erinnert Kardinal Reinhard Marx bereits im Vorwort der jüngsten Schrift der Bischöfe. Jene in der Kirche, die sich vor der Freiheit und deren Triebkraft als Quelle von Entwicklung und Fortschritt fürchten, werden sich deshalb am wenigsten auf diesen großen Papst berufen können.

Ablehnung ökonomischer Realitäten

Und es war der evangelische Pastor Joachim Gauck, der nach dem Dresdner Kirchentag mit der Bemerkung zitiert wurde, er habe dort eine nahezu infantile Ablehnung ökonomischer Realitäten beobachten müssen. Auf der Veranstaltung sprach Gauck auch über seinen Eindruck, in Deutschland gebe es mitunter eine „Angstsucht“. Von Angst sollten sich aber weder die Kirchen noch die Bürger leiten lassen. Die offene Gesellschaft, die wir Liberale meinen, ist das Versprechen des „angstfreien Andersseindürfens für alle“, wie es Odo Marquard ausgedrückt hat. Es setzt voraus, dass Menschen von äußeren Zwängen befreit sind – dass niemand mehr Macht über mein Leben hat als ich selbst.

Freiheit kann sich aber nicht in der Gewährung bloß formaler Möglichkeiten erschöpfen, die im alltäglichen Leben nicht verwirklicht werden: In der Theorie könnte in einer offenen Gesellschaft jeder alles erreichen. Fehlt aber Qualifikation oder bremsen bürokratische Lasten, klingt das Aufstiegsversprechen hohl. Deshalb definieren auch die Bischöfe die Freiheit nicht lediglich als Abwesenheit von Zwang, sondern positiv als „Freiheit zur Bestimmung und zur Verwirklichung eigener Ziele“. Und weiter: „Mit Freiheit ist notwendigerweise ein gewisses Maß an Ungleichheit verbunden, die sich schon aus der Einmaligkeit der Person ergibt.“ Ziel sei deshalb nicht die Gleichheit. Auch Liberale bedauern Ungleichheit nicht, sondern akzeptieren sie als notwendigen Preis der Freiheit. Denn erst das Recht, sich unterscheiden zu dürfen, macht das selbstbestimmte Individuum aus. Erst die Selbstorganisation von Bürgern jenseits des Staates setzt Energien für den kreativen Wettbewerb um die besten Ideen frei.

Pflicht zum Subsidiaritätsprinzip

Wie die Kirchen weiß auch der Liberalismus um die Fehlbarkeit und Verführbarkeit des Einzelnen. Er will dem aber nicht mit Diktaten begegnen, die am Ende nur zu schaler Gleichförmigkeit führen. Er lässt die Menschen nicht in dem Glauben, bürokratische Überinstanzen könnten besser für ihn entscheiden als er selbst. Der Liberalismus kämpft stattdessen für Staat und Gesellschaft, die den Einzelnen dazu befähigt, sich im Spiel des Wettbewerbs zu bewegen und zu bewähren.

Die Idee der Freiheit ist damit auch eine Aufforderung zum produktiven Miteinander. Sie ermutigt zu Teilhabe und Eigenverantwortung. Hier schließt sich der Kreis zum Subsidiaritätsprinzip, auf das die Bischöfe ausdrücklich Bezug nehmen: „(Der Mensch) steht in der Pflicht, die ihm gegebenen Möglichkeiten zu nutzen, bevor er Hilfe durch die Solidargemeinschaft in Anspruch nimmt“, schreiben sie.

Bildung als Schlüsselaufgabe

Ungleichheit ist allerdings nur dann legitim, wenn sie das Ergebnis eines fairen und offenen Wettbewerbs ist. Deshalb plädieren die Bischöfe für die Herstellung von Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit: „Dem Einzelnen müssen Wege in die Gesellschaft eröffnet werden – und zwar nicht einmal, sondern immer wieder.“ Dem können Liberale aus vollem Herzen zustimmen. Deshalb sehen wir in fairen Bildungschancen die sozialpolitische Schlüsselaufgabe. Und deshalb treten wir für einen aufstiegsorientierten Sozialstaat ein, der nicht Umverteilung organisiert, sondern Chancen eröffnet.

Gute Sozialpolitik muss am Ende zu Beschäftigung aktivieren, denn Erwerbsarbeit ist eine zentrale Ressource der Selbstbestimmung. Aus diesem Grund wollen wir auch nicht zuerst die Sozialleistungen erhöhen, sondern Hürden für die Wiederaufnahme von Arbeit senken. Dazu haben wir zum Beispiel im vergangenen Jahr die Möglichkeiten, zum Arbeitslosengeld II etwas hinzu zu verdienen, verbessert. Eine nochmalige Verbesserung in dieser Legislaturperiode ist übrigens möglich und nötig.

Mit ihrem neuen Sozialwort haben die katholischen Bischöfe eindrucksvoll vor Augen geführt, warum die Idee der Freiheit eine neue gesellschaftliche Debatte verdient. Nicht in allen Punkten decken sich ihre Schlussfolgerungen mit denen der liberalen Partei. (Für die FDP folgt aus dem Vertrauen auf souveräne Bürger zum Beispiel, dass finanzielle Mittel im Zweifel bei den Bürgern immer besser aufgehoben sind als beim Staat). Doch wenn es um eine neue Balance zwischen Freiheit und Gleichheit in unserer Gesellschaft geht, dann wird man diese außergewöhnliche Wortmeldung der Kirche keinesfalls übergehen können. Sie muss all jene nachdenklich stimmen, innerhalb und außerhalb der Kirchen, die der Ordnung der Freiheit ihren ethischen Geist absprechen.