Guido Westerwelle,
Bundesminister des Auswärtigen zum neuen strategischen Konzept der NATO
Rede im Deutschen Bundestag am 11. November 2010:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten garantiert die NATO unsere
gemeinsame Sicherheit. Auch diejenigen, die gerne gegen die NATO
demonstrieren das ist ihr gutes Recht , dürfen nicht
vergessen: Es ist auch das Ergebnis unserer erfolgreichen Sicherheitspolitik
und des Bündnisses der NATO, dass sie diese Demonstrationsfreiheit wahrnehmen
können.
In der nächsten Woche werden wir in den Beratungen über
das Strategische Konzept den Kurs festlegen. Ich möchte mich zu Beginn meiner
Ausführungen beim NATO-Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, bedanken. Ich
möchte mich bei Madeleine Albright und ihrem Expertenteam ausdrücklich für
die wichtige Vorarbeit bedanken. Unser Eindruck ist natürlich immer
vorbehaltlich der Entscheidungen in der nächsten Woche in Lissabon
: Das, was vorgelegt worden ist, bildet eine sehr gute Grundlage für
die weiteren Beratungen. Es berücksichtigt unser Sicherheitsinteresse. Es
macht aber auch klar, dass wir eine Wertegemeinschaft sind: Die NATO ist
nicht zuerst ein Militärbündnis, sondern eine transatlantische
Wertegemeinschaft.
Ich will zu wenigen Punkten im Einzelnen
Stellung nehmen, ohne die Ergebnisse der Beratungen vorwegnehmen zu wollen.
Es handelt sich heute um eine Debatte im Vorgriff. Die Debatte ist verbunden
mit dem Auftrag an uns diejenigen, die in der nächsten Woche verhandeln werden , für die richtige Richtung der Politik zu sorgen.
Wir, die Bundesregierung, verfolgen beim Strategischen Konzept der NATO
mehrere Ziele, die wir in die Verhandlungen einbringen wollen. Ein
entscheidendes Ziel ist, dass sich die NATO auch den Themen der Abrüstung und
der Rüstungskontrolle verschreibt. Wir haben im Frühjahr, bei den Beratungen
im April, eine ganze Reihe von Verbündeten dafür gewinnen können. Wir alle
wissen, dass die Umsetzung der Vision des Präsidenten Obama von einer
nuklearwaffenfreien Welt natürlich ein sehr langfristiges Ziel ist; aber es
ist ein vernünftiges Ziel. Wir wollen Schritte in diese Richtung
unterstützen. Deswegen ist eine reduzierte Rolle von Nuklearwaffen zu Recht
Teil de r Strategie, die wir als Bundesregierung unterstützen wollen.
Mit der Debatte in der nächsten Woche in Lissabon wollen
wir die Diskussion nicht beenden. Sie muss natürlich fortgesetzt werden. Die
Debatte über Abrüstung und Rüstungskontrolle ist nicht beendet, sondern wird
in einem Folgeprozess fortgesetzt, der uns dem Ziel einer Welt ohne
Atomwaffen näherbringen soll. Fortschritte sind unverkennbar. Ich denke nicht
nur an den Nuclear Posture Review der Vereinigten Staaten von Amerika,
sondern ausdrücklich auch an die Konferenz zur Überprüfung des Vertrages über
die Nichtverbreitung nuklearer Waffen in diesem Jahr in New York. Sie ist
dieses Mal, anders als vor fünf Jahren, nicht gescheitert, sondern es wurde
ein gemeinsames Ergebnis vereinbart. Es ist richtig, dass sich die NATO als
Sicherheitsbündnis und als politische Wertunion versteht und sich daher der
Abrüstung verschrieben hat. Abrüstung und die Nichtverbreitung nuklearer
Waffen sind zwei Seiten derselben Medaille. Beides gehört zusammen. Es gibt
neue Herausforderungen und neue G efahren in unserer Zeit. Je mehr Staaten
sich atomar bewaffnen können, umso größer ist die Gefahr, dass terroristische
Gruppen darauf Zugriff haben. Genau das gilt es im Interesse der Bürgerinnen
und Bürger unserer Länder durch vorausschauendes und kluges Agieren zu
verhindern.
Natürlich ist es notwendig, auch die taktischen Atomwaffen
in diese Diskussion einzubeziehen. Wir halten am Ziel des Abzugs fest. Wir
sehen darin aber vor allem einen Katalysator für ein sehr breites Ergebnis.
In das Thema Abrüstung ist Bewegung gekommen. Ich denke beispielsweise an den
neuen START-Vertrag. Wir setzen darauf, dass dieser START-Vertrag auch mit
neuen Mehrheitsverhältnissen ratifiziert wird, damit er zur Geltung kommen
kann.
Zu einem weiteren bemerkenswerten, wie ich finde, geradezu
historischen Vorgang: Das Programm zur Raketenabwehr, das von Präsident Bush
angeregt und begonnen worden ist, hat mittlerweile eine völlig neue Richtung
bekommen. Während das Projekt Raketenabwehr ursprünglich von den USA mit ein,
zwei Verbündeten in Europa durchgeführt werden sollte, ist es mittlerweile
ein Projekt, das im gesamten Bündnis angegangen wird. Was besonders wichtig
ist: Russland wird eingeladen, bei dem Projekt Raketenabwehr mitzuwirken. Wir
wollen nicht, dass es in Europa Zonen mit einem unterschiedlichen
Sicherheitsgrad gibt. Wir wollen in Europa beim Thema Sicherheit keine
Trennlinien, sondern Gemeinsamkeit. Dass Präsident Medwedew angekündigt hat,
zum NATO-Gipfel nach Lissabon zu reisen, ist eine große Geste. Wir wollen mit
Russland unsere Sicherheit verbessern und nicht in Konfrontation zu Russland.
Das ist die klare Ansage des Bündnisses.
Ich glaube, wir alle müssen anerkennen, dass auf diesem
Gebiet eine enorme Bewegung stattgefunden hat. Wenn man
sich vor Augen führt, worüber vor 20, 30 Jahren noch diskutiert worden ist,
und sieht, dass Russland jetzt von der NATO eingeladen wird, bei Themen der
Raketenabwehr und der Sicherheit mitzumachen, und Russland sich nicht
verweigert, sondern sagt: „Wir sehen uns das an, prüfen das und überlegen,
welche Möglichkeiten wir haben“, dann müssen wir feststellen: Das ist eine
historische Entwicklung, die wir nicht mal eben so durchwinken sollten.
Darüber sollten wir uns freuen. Das ist die Friedensdividende langjähriger,
jahrzehntelanger Bemühungen vieler Vertreterinnen und Vertreter der Politik
in vielen Ländern, übrigens von Vertretern aller geistigen Richtungen in der
Politik.
Wir haben über dieses Thema unter anderem bei den
Gesprächen im NATO-Russland-Rat, der neu belebt worden ist, debattiert. Das
sind gute und vernünftige Schritte.
Zum Schluss möchte ich die grundsätzliche Ausrichtung noch
einmal klarmachen: Wir werden uns unverändert als Verteidigungsbündnis
verstehen. Das heißt, Art. 5 des Nordatlantikvertrages das sagen wir ganz
klar insbesondere an die Adresse der sogenannten osteuropäischen
Mitgliedstaaten steht für uns außerhalb jeder Debatte und jeder Diskussion.
Wir kennen die neuen Herausforderungen, die zum Beispiel Computerattacken
darstellen. Wir wissen aber auch, dass es andere Mechanismen gibt, als die in
Art. 5 des Nordatlantikvertrages genannten, zum Beispiel die, die in Art. 4
des Nordatlantikvertrages erwähnt werden: Konsultationsmechanismen und
Beratungen, die stattfinden müssen. Auch das muss man sehen. Deshalb bleibt
die strenge Bindung an das Völkerrecht unser Kompass.
(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen Sie das
einmal Ihrem Verteidigungsminister!)
Wir haben zwei Leitlinien: Wir wollen die internationale
Verantwortung wahrnehmen. Gleichzeitig werden wir aber auch die Politik der
militärischen Zurückhaltung fortsetzen.
(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha! Da haben Sie
aber einen Konflikt mit zu Guttenberg!)
Das ist eine klare Ansage für die Bundesregierung
insgesamt. Alle anderen Unterstellungen sind abwegig. Wir werden unsere
internationale Verantwortung wahrnehmen, aber es bleibt bei der Kultur der militärischen
Zurückhaltung.
(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
- Lassen Sie solche Unterstellungen. Wenn Sie etwas
anderes von uns behaupten, sind das Diffamierungen, die mit der Realität
nichts zu tun haben.
Der Deutsche Bundestag wird den Einsatz unserer Bundeswehr
im Blick haben. Ich kann Ihnen für die Bundesregierung noch einmal
versichern: Für uns ist das eine klare Maßgabe, ein klarer Kompass: Die
Bundeswehr ist keine Regierungsarmee, sie ist auch keine Armee von
irgendwelchen Parteien oder parteipolitischen Mehrheiten. Die Bundeswehr ist
eine Parlamentsarmee. Auch das ist unser Kompass bei den Verhandlungen im
Bündnis.
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